Die Kunst der Nachteule
Es war einmal ein Maler, der viele Jahre wie eine Nachteule lebte. Nie verließ er am Tage sein Atelier, das mitten in der großen Stadt lag. Er konnte es nicht. Wie gelähmt fühlten sich seine Beine und Füße an, wenn er nur daran dachte, hinaus in das taghelle Leben zu gehen. Und trotzdem malte er am allerliebsten Bilder von Sonne und einem Licht, das das Wasser und das Grün der Blätter und Gräser mit Millionen kleiner, funkelnder Pünktchen schmückte. Es waren seine besten Bilder. Bilder, die in seinem kleinen, engen, nicht besonders hellen Atelier entstanden sind.
„Ich kann nur hier malen“, sagte er. Und das stimmte. In diesen vielen Jahren hatte der Maler nämlich sehr viele wundervolle Bilder gemalt. Jeden Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Erst am Abend, oder oft auch erst in der Nacht, ging er nach draußen, aß irgendwo einen Happen, trank mit Freunden und Bekannten manchmal einen Wein. Oft schlenderte er stundenlang durch die nächtlichen Straßen und malte neue Bilder in seinem Kopf.
Dann kam der Tag, an dem er jene vermaledeite Wette verlor. Er war sich so siegesgewiss gewesen, denn sonst hätte er sich von seinem Freund niemals zu diesem ‚Unfug‘, wie er knurrend sagte, überreden lassen. Doch Spielschulden sind Ehrenschulden, und der Maler war ein ehrenhafter Mann. Er biss die Zähne zusammen und löste wie verabredet an einem sonnigen Sonntag seine Wettschuld ein: ein Ausflug mit Skizzenblock, Staffelei und Farben zum Hausberg am Rande der Stadt. Ein Bild sollte er malen. Sein erstes Bild von Sonne und Licht, das draußen in der Natur entstand.
Sein Freund war hochzufrieden. „Bestimmt malst du heute das beste Bild deines Lebens“, sagte er zu dem Maler. „Du als Meister der Farben des Lichts wirst dich in der sommerlichen Natur selbst übertreffen.“
Der Maler brummte nur ein unverständliches „Hm“, setzte sich am höchsten Punkt der Waldwiese auf einen Stein und ließ seine Blicke schweifen.
Lange saß er da und er blickte verzückt auf das wunderherrliche Bild, das ihm die Natur an jenem Tag malte. Er blickte und blickte und blickte. Er sah in das Himmelblau und in das Grün der Bäume, sah wie die Sonnenstrahlen mit dem Wind in Blättern, Blüten und Gräsern spielten, wie Bienen, Hummeln, Schmetterlinge und Käfer über die Wiese schwebten, brummten und summten, sah winzig kleine Elfen und Feen zwischen Blumen und Wiesengräsern tanzen. Unzählig viele Bilder malte er in seinem Kopf. Wunderhelle, lichtwarme Bilder.
Das beste Bild seines Lebens, das ihm sein Freund prophezeit hatte, das malte er nicht. Nicht, weil er sich weigerte, es zu versuchen. Nein, wie gelähmt fühlten sich seine Arme und Hände an. Er war unfähig, einen Malstift zu halten. Er war … verzaubert. Und wie verzaubert kehrte er am Abend in sein kleines, nicht ganz helles Atelier mitten in der großen Stadt zurück, wo er sein Eulenleben wieder aufnahm. Die Lähmung in Armen und Händen verschwand schnell und er begann wieder zu malen. Auf Wetten ließ er sich nicht mehr ein. Einen weiteren Ausflug in die Sonne unternahm er auch nicht. Auf seinen neuen lichthellen Gemälden aber tanzten, wenn man genau hinsah, nicht nur Lichtpünktchen als Kinder der Sonne, sondern, verborgen im Grün der Blätter, Gräser und Blüten winzig kleine Elfen. Sie lächelten verschmitzt beim Tanze, doch, wie gesagt, man musste ganz genau hinsehen.